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- Veröffentlicht: 08. Juni 2016
Willkommensklassen am Barnim-Gymnasium - 2016
Es ist Ende Mai – wir sind ein Jahr dabei!
Gehen wir ein Jahr zurück: Wir schreiben das Jahr 2015. Die öffentlichen Medien überschlagen sich mit Berichten über zunehmende Flüchtlingsströme – man spricht von Flüchtlingskrise in Europa, weltweit sind etwa 60 Millionen Menschen betroffen. Die Gründe, warum sie sich auf den Weg machen, mögen verschieden sein – die einen flüchten wegen lang anhaltender Kriege, die anderen wegen der Klimaveränderungen und einhergehenden Hungersnöten, die dritten wegen wirtschaftlich miserabler Zustände in diktatorischen Verhältnissen, aber das himmelschreiende Elend in den Herkunftsländern ist allen gemein. Für viele wird Europa und vor allem Deutschland zum Gelobten Land.
Am 19. Mai 2015 werden die Bürger/innen in unserer Umgebung zum zweiten Mal ins Barnim-Gymnasium eingeladen – auf Anregung des Schulleiters, Herrn Schmidt-Ihnen: Viele Anwohner/innen nehmen die Chance wahr, sich ausreichend über das Flüchtlingscamp Falkenberg informieren zu lassen. Sicher, es gibt Vorbehalte ihrerseits, aber auch viel Zustimmung. Im August wird es eröffnet und somit stehen ab dem neuen Schuljahr 2015/16 auch zwei Willkommensklassen (WK) unsererseits an. In Gemeinschaft mit der Feldmark-Grundschule sollen die Kinder zunächst – aufgrund der Raumknappheit beider Schulen – im ehemaligen Förderzentrum, Wartiner Straße 47, unterrichtet werden. Den allgemeinen Hinweisen zum Aufbau und zur Gestaltung von WK entsprechend, entwickelt – nach intensiver Recherche – unser Schulleiter ein Modell für das Barnim-Gymnasium, in Abstimmung mit einem sich im Aufbau befindenden Kompetenzteam:
Frau Carlsohn, Herr Horvath, Frau Zeidler
Die Stundentafel in der Filiale muss mit der im Stammhaus vernetzt werden, so dass die WK-Kinder auch am regulären Unterricht, z. B. in den WPU-Fächern oder in Sport, teilnehmen können; eine Differenzierung der Klassen nach Sprachfähigkeiten muss ausgearbeitet werden etc. (vgl. Willkommenskultur 2015). Das Kompetenzteam besteht aus drei Lehrer/innen: Frau Zeidler und Herrn Horvath, zwei ausgebildeten DaZ-Lehrer/innen – ursprünglich aus der Ukraine bzw. aus Ungarn – und der erfahrenen ‚Bio-Deutschen‘, Geschichte/PW- und Sportlehrerin, Frau Carlsohn. Sie sind die Pioniere der ersten Stunde (vgl. Portraits).
Im Januar dieses Jahres verfasst Frau Carlsohn einen Zwischenstands-Bericht. Am 15. März 2016 findet der erste ‚Tag der offenen Tür‘ am Standort Wartiner Straße statt: Wir haben zu diesem Zeitpunkt drei Klassen mit fast 30 Schüler/innen aus zahlreichen Nationen und 8 Lehrer/innen, die mehr oder weniger involviert sind, und es ist immer ein/e Mitarbeiter/in aus dem sozialen Team des Barnim-Gymnasiums im Haus. Es existieren drei Klassenräume, ein Kunstraum im Erdgeschoss, eine Bibliothek und ein Computerraum, der noch nicht ganz in Funktion ist.
An diesem Tag – dem 15. März – besuchen auch Schüler/innen aus vier Regelklassen bzw. –kursen ihre neuen Mitschüler/innen: sie werden sehr freundlich, wenn auch etwas verhalten empfangen. Zunächst berichtet Frau Carlsohn von berührenden Momenten. Modalverben hätten zur Debatte gestanden und ein Schüler habe aus tiefstem Herzen formuliert: Ich DARF zur Schule gehen! Manche Schüler/innen würden sich auch für den Unterricht bedanken. Auf vorbereiteten, handgeschriebenen Zetteln aus einer Gruppenarbeit – ausgelegt zwischen bunten Ordnern und Büchern – steht:
Hallo. Wir sind die Schüler, die euch den Wochenplan erklären: Also wir sind Klea, Edin und Viki. In der Willkommensschule haben wir drei Klassen, Klasse A, B und C. Die Wochenplanarbeit machen wir alle zusammen, zweimal in der Woche. Die Wochenplanarbeit sind die Aufgaben, die wir für eine Woche gelernt haben – die Zusammenfassung der Fächer. Die Aufgaben des Wochenplans für die Klasse A sind anders als die Aufgaben der Klasse B. Sie sind leichter als die Aufgaben der B-Klasse. In einem Wochenplan haben wir verschiedene Aufgaben. Wir bekommen das Blatt vom Wochenplan von den Lehrern und die Materialien finden wir in den Ordnern. Wir haben Höraufgaben, die wir in der Bibliothek lösen, und Lese-Schreibaufgaben, die wir in den Ordnern oder in den Deutsch-Büchern finden. Das ist die Wochenplanarbeit, die wir in der Schule machen. DANKE SCHÖN!
Nach einigen Berührungsängsten kommen die Alt-Berliner/innen und die Neu-Berliner/innen tatsächlich ins Gespräch. Was die alteingesessenen Barnimer/innen anschließend dazu sagen, kann man nachlesen (vgl. Impressionen) – von drei frisch gebackenen soll man hier sofort erfahren:
Edin – er ist noch 15 Jahre alt, kommt aus Serbien (Nisch) und lebt mit seinen Eltern und einem seiner Brüder (19 Jahre) in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Alt-Hohenschönhausen. Sein 22jähriger Bruder durfte nicht bleiben, was der ganzen Familie schon mehrmals drohte, aber mit Hilfe eines Anwalts gelang eine Aufenthaltsgenehmigung. Edin berichtete, dass es eventuell für seinen Vater – er ist Handwerker – eine Arbeitserlaubnis geben würde, worüber er sehr glücklich sei. Und alle anderen auch, denn Edin gilt als höflicher, sehr fleißiger und engagierter Schüler, dessen Kenntnisse der deutschen Sprache weit fortgeschritten sind. Er wird von Lehrer/innen und Mitschüler/innen gleichermaßen geschätzt. Wir plädieren für ein Bleiberecht, so lautete es allgemein. Auch soll erwähnt werden, dass Edin die WPU-Klasse in Musik frequentiert und am Geschichts- und Biologieunterricht in den Regelklassen teilnimmt.
Fadi – er ist noch 14 Jahre alt und sein Heimatland ist der Irak. Der muntere, kultivierte Junge stammt offensichtlich aus einer bildungsnahen Familie: er spielt nicht nur Klavier – wie er mitteilte und von der Lehrerin bestätigt wurde -, sondern präsentiert in fließendem Deutsch sein Wissen über die politische Hierarchie Deutschlands: von Präsident über Bundeskanzlerin bis zu etlichen Ministern – er nennt sie alle mit Namen und Titel. Und es gibt 16 Bundesländer, fügt er lächelnd hinzu. Sein musisch-musikalisches Talent beweist Fadi im WPU-Musikunterricht und im DS-Kurs, aber auch die Mathematik hat es ihm angetan – er besucht den ganz normalen Unterricht; zusätzlich spielt er noch Fußball. Welch ein Junge!
Dringend empfehlen möchten wir den Dokumentarfilm Die neuen Nachbarn – Flüchtlinge in Berlin des ZDFinfo-Kanals. Darin erzählt u. A. der 15jährige Kenan – einer unserer Schützlinge – von seinen gravierenden Problemen, seitdem er Syrien, im Sommer 2015, allein und unter dramatischen Umständen verlassen hat. Trotz aller Hilfe geht es dem traumatisierten Jungen zunehmend schlechter. Er will nur noch nach Hause – seine Geschichte wird wohl keine Erfolgsstory werden.
Ein Jahr ist vergangen. Die Anfangsschwierigkeiten sind überwunden, aber wir können noch lange nicht von Alltag sprechen. Mittlerweile haben wir 50 angemeldete Schüler/innen und jeden Dienstag kommen neue dazu. Ein Drittel kommt aus Syrien, Etliche kommen aus Afghanistan, aber auch immer noch aus Albanien und Serbien, um nur die häufigsten Nationalitäten zu nennen. Wir platzen aus allen Nähten. Wir planen weiter und weiter und in naher Zukunft wird es einen Koordinator für den DaZ-Unterricht geben, denn wir sollen laut Auskunft des Schulamtes in Lichtenberg noch 11 neue Willkommensklassen aufmachen. Unterricht in zwei Schichten ist angedacht. Wie ist all das nur zu schaffen, fragen wir uns täglich. Wir schaffen das!